Willensschwäche in Antike und Mittelalter

Eine Problemgeschichte von Sokrates bis Johannes Duns Scotus

Jörn Müller

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Mit ‘Willensschwäche’ wird gemeinhin eine Situation gekennzeichnet, in der jemand wider besseres Wissen bzw. gegen seinen eigenen Vorsatz handelt. Die philosophische Relevanz dieses Alltagsproblems liegt in der damit verbundenen Infragestellung unseres Selbstverständnisses als rationale Akteure sowie in der Frage nach den involvierten handlungstheoretischen und psychologischen Erklärungsmustern für ein solches Handeln. Dieses Buch bietet die erste umfassende Geschichte dieses Problems im antiken und mittelalterlichen Denken, die in vier Teilbereichen rekonstruiert wird: (1) die akrasia-Debatte im klassischen Griechenland; (2) das spezifisch christliche Verständnis der Willenschwäche in der Spätantike; (3) die Konzeptualisierung unwilligen Handelns in der Monastik; (4) die scholastische Debatte zwischen ‘Intellektualisten’ und ‘Voluntaristen’ über die Grundlagen der menschlichen Freiheit. Die Studie zeigt sowohl die Entwicklung innerhalb dieser Kontexte an Hand zentraler Autoren als auch deren Verzahnung untereinander auf. Im Schlussteil werden die historischen Resultate für die gegenwärtige Diskussion fruchtbar gemacht.

I. Einleitung

I.1. Was ist Willensschwäche? Eine
Phänomenskizze                                                    

1. Begriffliche und inhaltliche
Differenzierungen an Hand der modernen Diskussion      

2. Die philosophische und die alltägliche
Problematik der Willensschwäche              

3. Schlussfolgerungen für die vorliegende
Studie                                                                  

I.2. Forschungsstand zur Problemgeschichte
der Willensschwäche                    

I.3. Programm und Anlage der Studie                                                                            

II. Leidenschaftliche Begierde contra Vernunft: Die ἀκρασία-Debatte der klassischen Antike

II.1. Prolog: Die Herausforderungen des Euripides                                                    

1. Der Fall Phaedra                                                                                                          

2. Der Fall Medea                                                                                                            

3. Synopse: Willensschwaches Handeln bei Euripides

 

II.2. Das Problem der ἀκρασία bei Sokrates bzw. Platon: Vom Saulus zum Paulus?                                              

1. Protagoras: Die handlungstheoretische Unmöglichkeit synchroner Willensschwäche                                          

2. Ἀκρασία und ἐγκράτεια in Xenophons Memorabilia    

3. Der Fall Leontios: Seelenteilung und ἀκρασία in der Politeia

4. Mit Leib und Seele: Willensschwaches Handeln und ἀκράτεια im platonischen Spätwerk (Nomoi, Timaios)

5. Sokrates, Platon und das Homunkulus-Problem  

 II.3. ZwIschen Sokrates und Platon: ἀκρασία bei ArIstoteles                                    

1. Was ist überhaupt ἀκρασία? (NE VII, 1-11)    

2. Die aristotelische Analyse akratischen Handelns (NE VII 5)                                    

3. Zum Problem des „Sokratismus“ in NE VII 5                        

4. Die Psychologie des Handelns (De anima) und alternative ἀκρασία-Erklärungen                                                                                                          

5. Die Willentlichkeit des akratischen Handelns (NE III 1-3 und EE II 7-8)    

6. Die aristotelische ἀκρασία und die moderne Diskussion zur Willensschwäche

 

II.4. Phantomdebatten? zur auseInandersetzung mIt der ἀκρασία In der stoa

1. Zentrale Elemente der stoischen Psychologie und Handlungstheorie        

1.1. Konturen der Handlungspsychologie in der alten Stoa          

1.2. Die stoische Affektlehre                                                      

2. Ἀκρασία als Explanandum der stoischen Theorie

2.1. Das Oszillationsmodell

2.2. Das Persistenzmodell  

3. Seelische Schwäche, Selbstbeherrschung und der stoische Weise  

4. Innerer Konflikt und Willensschwäche in der Stoa    

 

II.5. Erste Zwischenbetrachtung    

III. „Denn nicht das, was ich will, tue ich …“: Die Diskussionen über die menschliche Freiheit in der christlichen Spätantike

III.1. Paulus: Die Kluft zwischen Wollen und Tun    

1. Über das Ich von Röm 7      

2. Die Beschreibung der Willensschwäche in Röm 7  

3. Willensschwäche im Spiegel zentraler Kategorien der paulinischen Anthropologie      

3.1. Fleisch und Geist    

3.2. Der Konflikt von Geist und Fleisch in Gal 5,16-18      

3.3. Das unter die Sünde verkaufte Ich und das Problem der Willensfreiheit          

3.4. Vernunft, innerer Mensch und Gewissen    

4. Die paulinische Transformation der ἀκρασία-Problematik  

III.2. Die Verteidigung der Freiheit im Römerbriefkommentar des Origenes  

1. Gesetz und Gewissen, Sünde und Freiheit (zu Röm 7,7-13)      

2. Willensschwäche als Handeln gegen den eigenen Vorsatz (zu Röm 7,14-25)    

2.1. „Ex parte in carne, ex parte in spiritu“: Origenes zur „Ich-Frage“  

2.2. Die Beschreibung des willensschwachen Handelns      

2.3. Der menschliche Wille zwischen Geist und Fleisch  

2.4. Die Macht der Gewohnheit und die Schwäche des Willens  

3. Auf dem Weg zur Willensstärke: Der sittliche Aufstieg der menschlichen Seele        

3.1. Der Dualismus von innerem und äußerem Menschen  

3.2. Der Kampf gegen den äußeren Menschen und die Aufmerksamkeit auf sich selbst  

4. Die Bedeutung des Willensbegriffs für Origenes‘ Interpretation von Röm 7  

III.3. Willensschwäche und Gewissen: Ein Querschnitt        

1. Συνείδησις und conscientia in klassischer Antike, NT und Patristik

2. Petrus Lombardus und die mittelalterliche Gewissenslehre  

3. Moralische Willensschwäche als Handeln gegen das eigene Gewissen    

III.4. Unde hoc monstrum? Augustinus und der zerrissene Wille      

1. Contra Manichaeos: Sünde und Willentlichkeit in den Frühschriften (De libero arbitrio, De duabus animabus)    

2. Kann man gegen seinen Willen sündigen? Augustins frühe Römerbriefexegese      

3. Der zerrissene Wille und die Macht der Gewohnheit (Confessiones)  

3.1. Willensschwäche als Krankheit des Geistes (aegritudo animi)    

3.2. Zur Psychologie der Gewohnheit und der Selbsttäuschung

3.3. Contra Pelagianos: Die Versuchungen des homo sub gratia und die Neuinterpretation des
Römerbriefs im Licht der späteren Gnadenlehre    

4. Klarsichtige Willensschwäche? Die Ursünde und der Fall des ersten Engels
(De civitate Dei)  

5. Der Wandel im augustinischen Freiheitsverständnis    

6. Die augustinische Neufassung des Problems der Willensschwäche  

 

III.5. Zweite Zwischenbetrachtung    

 

IV. Unwilliges Handeln (invitus facere) und liberum arbitrium als Problem im 11. und 12. Jahrhundert

 

IV.1. „Niemand sündigt unwillig“: Anselm von Canterbury als Socrates redivivus?        

1. Anselms Ausdifferenzierung des Willensbegriffs

2. Die schöpfungstheologischen Grundlagen des anselmischen Willensbegriffs und ihre handlungstheoretischen
Implikationen        

3. Freiheit des Willens versus Willensschwäche in De libertate arbitrii        

4. De casu diaboli, oder: Wie kann ein rationales Geschöpf überhaupt sündigen?    

5. Menschlicher Wille und Freiheit nach dem Sündenfall  

6. Willensschwäche zwischen Determinismus und Indeterminismus    

 

IV.2. Peter Abaelard, oder: „Sündigen ist menschlich“    

1. Die Problemstellung in Abaelards Römerbriefkommentar      

2. Die Bestimmung des Sündenbegriffs in der Ethica    

3. Anthropologische Voraussetzungen von Sünde und willensschwachem Handeln  

4. Willensschwäche und Tugendlehre    

5. Die Bedeutung der Willensschwäche für Abaelards Ethik  

IV.3. Bernhard von Clairvaux: Willensschwäche und Selbsttäuschung    

1. Das liberum arbitrium und die menschliche Freiheit  

2. Bernhards Auffassung von Röm 7: necessitas voluntaria

3. Invitus facere und infirmitas voluntatis: Die Selbsttäuschung des Petrus  

4. Bernhards christlicher Sokratismus      

5. Willensschwäche als amor infirmus  

6. Bernhards affektiv-volitionales Konzept der Willensschwäche    

IV.4. Dritte Zwischenbetrachtung  

V. Zwischen Intellektualismus und Voluntarismus: Die scholastische Debatte um die Willensschwäche im 13. Jahrhundert

V.1. Die Rezeption der Nikomachischen Ethik als Ausgangspunkt der Diskussionen      

1. Die translatio Lincolnienis und das lateinische Schrifttum zu NE VII um 1250    

2. Die intellektualistische a)krasi¿a-Interpretation von Albertus Magnus

 V.2. Thomas von Aquin: Die Willentlichkeit des „Sündigens aus Leidenschaft“      

1. Die menschliche Handlung als dynamische Interaktion von Wille und Vernunft          

2. Die Analyse der aristotelischen ἀκρασία

3. Die Rolle des Willens in der Willensschwäche    

4. Eine Typologie willensschwacher Handlungen  

5. Willensschwäche und Gewissen  

6. Willensschwäche als Disposition willensschwacher Handlungen? Die infirmitas animae und ihre
Kurierung    

7. Der problemgeschichtliche Fortschritt bei Thomas  

 

V.3. Die deterministische Bedrohung der menschlichen Freiheit und ihre Verteidiger  

1. Der intellektualistische Indeterminismus bei Siger von Brabant  

2. Der voluntaristische Indeterminismus bei Walter von Brügge  

3. Intellektualismus, Voluntarismus und die Verurteilung von 1277  

 

V.4. Heinrich von Gent: auf der suche nach eIner voluntarIstIschen ἀκρασία-deutung                                                                                                                 
1. Drei Thesen zum Willensbegriff bei Heinrich von Gent      

2. Contra Socratem: Verkehrtheit des Willens und Oszillation praktischer Urteile (Quodlibet I)    

2.1. Wille und Vernunft in Quodlibet I  

2.2. Vermögenspsychologische Erwägungen zur Struktur und Verursachung von
Willensakten  

2.3. Heinrichs voluntaristische Deutung der aristotelischen a)krasi¿a  

2.4. Sub ratione boni oder sub ratione optimi? Eine
handlungstheoretische Debatte im ausgehenden 13. Jahrhundert  

3. Zwischen Scylla und Charybdis: Willensschwäche im Spannungsfeld der Verurteilung von 1277 und der propositio magistralis des Aegidius Romanus (Quodlibet X)  

4. Contra Aristotelem: Verschiebungen zwischen Quodlibet I und X
         
5. Heinrichs moderater Voluntarismus und seine Kritiker  

V.5. Willensschwäche als handlungstheoretischer Streitfall: Voluntaristische Radikalisierungen und
intellektualistische Reaktionen    

1. Der Korrektorienstreit      

2. Die anti-aristotelische Deutung der Willensschwäche bei Petrus Johannis Olivi        

3. Johannes von Pouilly: Willensschwäche und all things considered judgment

V.6. Johannes Duns Scotus, oder: Das Ende der Willensschwäche?  

1. Scotus und das peccare ex infirmitate                                                                
2. Scotus‘ Kritik an der Interpretation der Willensschwäche bei Heinrich von Gent                                                                                                                                            
3. Peccatum ex malitia: Wie ist klarsichtige Willensschwäche möglich?      

4. Willensschwäche, moralische Tugenden und Klugheit  

5. Der starke Wille und die Willensschwäche  

 

V.7. Vierte Zwischenbetrachtung    

V.8. Epilog: Willensschwäche ohne Ende? Ein Ausblick  

VI. Schluss

VI.1. Zentrale Elemente der Problemgeschichte in Antike und Mittelalter        

VI.2. Die Rolle des Willens in der historischen Problementwicklung                  
VI.3. Willensschwäche ohne Willen? Überlegungen zur gegenwärtigen Debatte

 

Quellen- und Literaturverzeichnis  

Format: Monograph - ebook

816 pages

ISBN: 9789461660268

Publication: October 19, 2009

Series: Ancient and Medieval Philosophy - Series 1 40

Languages: German

Stock item number: 56882

Jörn Müller studied philosophy, history and education at Bonn and Edinburgh. He obtained his PhD at Bonn in 2001 with a study on the ethics of Albert the Great. In 2008 he finished his 'habilitation' at Bonn. He has been holding a chair for the history of philosophy at the University of Würzburg since October 2007.

Jörn Müller (Universiteit van Würzburg) schetst op heldere wijze de geschiedenis van het denken over het fenomeen 'wilszwakte' vanaf de klassieke oudheid tot en met de vroege middeleeuwen in zijn boek 'Willensschwäche in Antike und Mittelalter. Eine Problemgeschichte von Sokrates bis Johannes Duns Scottus'. Het is een must voor iedereen die geïnteresseerd is in wilszwakte, de (vrije) wil of filosofische psychologie. Het omvangrijke boek is toegankelijk voor mensen die kennis willen maken met het onderwerp, maar boeiend voor kenners die geïnteresseerd zijn in een gedetailleerde en kritische bespreking van zowel toonaangevende visies binnen het debat als visies die sterk bepalend zijn geweest in de loop van de geschiedenis, maar die tegenwoordig op de achtergrond zijn geraakt.
Paulien Snellen, Tijdschrift voor Filosofie 73 (2011), 1